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BGH, Urt. v. 15.11.2023 – 1 StR 104/23: Zum Mordmerkmal der Heimtücke

Sachverhalt: (Rn. 2–4)

Der Angeklagte führte am 4. Juni 2022 auf einem Bahnsteig des Bahnhofs W. ein Jagdmesser mit einer Klingenlänge von 7,5 Zentimetern bei sich. Auf diesem Bahnsteig traf er den unbewaffneten Geschädigten H., den er als Kontrahenten einer vor etwa zwei Jahren stattgefundenen Auseinandersetzung wiedererkannte, bei der der Geschädigte den Angeklagten verletzt hatte. Nachdem der Angeklagte den Geschädigten zunächst passiert hatte, kehrte er aus einem nicht feststellbaren Grund auf den Bahnsteig zurück, wissend, dass er erneut auf den Geschädigten treffen könnte.

In der unteren Hälfte der Treppe zum Bahnsteig stießen sie erneut aufeinander. Nach einer kurzen Kommunikation, in der beide sich gegenseitig beleidigten, entschied der Angeklagte, sein mitgeführtes Jagdmesser einzusetzen. Ohne dass der Geschädigte schwerwiegende Beleidigungen aussprach oder den Angeklagten körperlich angriff, zog der Angeklagte das Messer unvermittelt aus der Tasche und stach dem Geschädigten in Richtung Herz. Der Geschädigte, der zu diesem Zeitpunkt keinen Angriff auf sein Leben erwartete und daher zur Verteidigung außerstande war, erkannte die Gefahr nicht. Der Angeklagte nahm den Tod des Geschädigten billigend in Kauf.

Obwohl eine innere Blutung einsetzte, starb der Geschädigte nicht sofort. Er folgte dem Angeklagten ruhig, erkannte die Verletzung erst später und stellte fest, dass er gestochen wurde. Sowohl der Angeklagte als auch der Geschädigte begaben sich in eine S-Bahn, wo der Geschädigte trotz sofortiger Erste-Hilfe-Maßnahmen zusammenbrach und verstarb.

Aus den Gründen:

In Frage stand das Vorliegen des Mordmerkmals der Heimtücke.

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Täter sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen. Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungs­vorsatz geführten Angriffs. (Rn. 7)

Der Geschädigte war bis zur Begegnung auf der Treppe mangels Wiedererkennens des Angeklagten arglos. Auch das darauffolgende Gespräch mit Beleidigungen konnte den Geschädigten nicht mit einem Angriff auf sein Leben rechnen lassen, zumal er das Jagdmesser nicht wahrnahm. (Rn. 9)

Bei Taten aus rascher Eingebung bedarf auch das Ausnutzungs­bewusstsein in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter keiner näheren Darlegung. Denn bei erhaltener Einsichts­fähigkeit ist die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungs­gehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt. (Rn. 10)

Heimtücke liegt mithin vor.

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