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BGH, Urt. v. 16.03.2023 – 4 StR 252/22: Zum Totschlag

Sachverhalt (Rz 5-)

Der zur Tatzeit 15 Jahre alte Angeklagte und der mit der Mutter des Angeklagten verheiratete Geschädigte gerieten ab Anfang des Jahres 2018 häufig wegen schlechter Schulnoten, nicht erledigter Hausarbeiten und übermäßigen Medienkonsums des Angeklagten in Streit. In diesen Auseinandersetzungen agierte der Geschädigte regelmäßig aufbrausend, aggressiv und laut. Zwischen dem Jahresende 2019 und Anfang des Jahres 2021 kam es in einigen Fällen zu Handgreiflichkeiten des Geschädigten gegenüber dem Angeklagten. In mindestens zwei Fällen stieß der körperlich deutlich überlegene Geschädigte den Angeklagten zu Boden und hielt ihn dort fest. Die körperlichen Über­griffe wurden jeweils durch ein Eingreifen der Mutter bzw. der Schwester des Angeklagten beendet. In einem weiteren Fall stieß der Geschädigte den Angeklagten auf ein Sofa und würgte ihn kurzzeitig, bis die Mutter, die zuvor von ihrem Sohn beleidigt und getreten worden war, die Auseinandersetzung beendete. In den folgenden Monaten kam es zwar nicht mehr zu körperlichen Über­griffen des Geschädigten auf den Angeklagten; das familiäre Klima war jedoch durch anhaltenden Streit belastet und erfuhr auch nach Einrichtung einer Erziehungs­beistandschaft keine Verbesserung. Nach einem körperlichen Über­griff des Angeklagten auf seine Mutter am 18. Juni 2021 trat der Geschädigte, der eine Fremd­unter­bringung des Angeklagten anstrebte, hinzu und wollte den Angeklagten festhalten, woraufhin dieser in Richtung des Bauches des Geschädigten trat und ihn ohrfeigte. Der Geschädigte drohte daraufhin, die Polizei zu verständigen, wozu es tatsächlich nicht kam. In der Folgezeit vermied der Angeklagte Begegnungen mit dem Geschädigten.

Am Abend des 3. Juli 2021 verließ der Angeklagte die Wohnung. Als der Geschädigte entdeckte, dass der Angeklagte absprach­ewidrig in seinem Zimmer gegessen hatte, geriet er in Wut und wurde laut. Im Verlaufe des sich daraufhin entwickelten Streits packte der aufgebrachte Geschädigte seine Frau an der Schulter, schüttelte sie und erklärte ihr, er wolle den Angeklagten nicht mehr im Haus haben. Er entfernte den vor der Haustür deponierten Ersatzschlüssel und stellte die Klingel ab. Die Mutter des Angeklagten ging zu Bett und schlief ein. Als der Angeklagte gegen 22.30 Uhr nach Hause kam, stellte er fest, dass der Ersatzschlüssel nicht an der üblichen Stelle abgelegt, die Klingel abgestellt war und er seine Mutter über Handy nicht erreichte, um ihn einzulassen. Verärgert machte der Angeklagte durch lautes Klopfen an die Haustür auf sich aufmerksam. Der nach wie vor aufgebrachte und leicht alkoholisierte Geschädigte öffnete dem Angeklagten schließlich gegen 22.45 Uhr die Haustür und es kam unmittelbar zum Streit. Der Geschädigte beleidigte den Angeklagten als „Pisser“ und „Bengel“, worauf der Angeklagte mit dem Ausruf „Halts Maul“ reagierte. Daraufhin erwiderte der Geschädigte „Ich geb’ dir gleich halts Maul“ und verfolgte den Angeklagten, der die Treppe zum ersten Obergeschoss hinauflief. Er nahm wahr, dass der Geschädigte ihm folgte, und befürchtete, dass es nun zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommen werde. Daher begab er sich in die Küche, um sich für die erwartete körperliche Auseinandersetzung mit dem ihm körperlich deutlich überlegenen Geschädigten zu bewaffnen. Er öffnete eine Schublade, ergriff ein Küchenmesser mit einer mehr als 19 Zentimeter langen Klinge und forderte den mittlerweile hinter ihm stehenden Geschädigten auf, wegzugehen. Dieser Aufforderung kam der Geschädigte nicht nach. Der Angeklagte wandte sich mit dem Messer in der Hand zum Geschädigten um, der ihm in diesem Moment mit der flachen Hand eine schmerzhafte Ohrfeige gegen die linke Wange versetzte. Unmittelbar darauf stach der Angeklagte dem Geschädigten mit bedingtem Tötungs­vorsatz und in Verteidigungs­absicht das Messer in den linken Oberbauch. Der Geschädigte trat einen Schritt zurück und bewegte sich anschließend mit nach vorne gebeugten Schultern einen Schritt auf den Angeklagten zu, so dass er in „unmittelbarer Schlagdistanz“ vor dem Angeklagten stand. Dabei hatte er weder die Arme erhoben noch die Hände zu einer Faust geballt. Nicht ausschließbar wäre es in der Folge zu weiteren Schlägen des Geschädigten gegen den Angeklagten gekommen. Der Angeklagte versetzte diesem aus Furcht und weiterhin in der Absicht, sich zu verteidigen und einen weiteren Schlag zu verhindern, mit bedingtem Tötungs­vorsatz einen zweiten, wuchtigen Stich in den oberen rechten Brustkorb. Die Stichverletzung führte unter anderem zu einer vollständigen Durchsetzung der vierten Rippe sowie einer Verletzung des Herzens, an deren Folgen der Geschädigte verstarb.

Aus den Gründen (Rz. 8-)

Das Landgericht ist zu der Über­zeugung gelangt, dass die Messerstiche durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt waren. Der mit Verteidigungs­willen handelnde Angeklagte habe sich nicht ausschließbar bei Ausführung beider mit bedingtem Tötungs­vorsatz geführten Stiche in einer Notwehrlage befunden. Beide Messerstiche seien zur Abwehr des Angriffs des Geschädigten erforderlich und geboten gewesen. Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staats­anwaltschaft und die Revisionen der Nebenkläger haben keinen Erfolg.

1. Das Tatgericht ist rechts­fehlerfrei davon ausgegangen, dass der Angeklagte sich im Zeitpunkt beider Messerstiche nicht ausschließbar in einer Notwehrlage im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB befunden hat. Das Landgericht vermochte nicht zweifelsfrei festzustellen, welche Absichten der Geschädigte verfolgte, nachdem er dem Angeklagten eine Ohrfeige versetzt hatte. Es ist unter Berücksichtigung aller insoweit aussagekräftigen Indizien – insbesondere aufgrund des Umstands, dass der aggressiv gestimmte Geschädigte in der räumlich beengten Küche in unmittelbarer Schlagdistanz zum Angeklagten verblieben ist – zu dem möglichen Schluss gelangt, dass keine eindeutigen Feststellungen zu den Absichten des Geschädigten in der besonderen Tatsituation am Tatabend getroffen werden können.

Das Tatgericht hat als ein auf die Absicht einer Fortsetzung des Angriffs hindeutendes Beweisanzeichen rechtlich unbedenklich berücksichtigt, dass der Geschädigte entgegen der Aufforderung des Angeklagten, wegzugehen, „auf engstem räumlichen Bereich bei dem Angeklagten“ geblieben ist, und sich auch nach dem ersten Stich nicht vom Angeklagten entfernt hat. Dabei hat es bedacht, dass der Geschädigte nach dem ersten Stich einen Schritt zurückgetreten ist, bevor er sich erneut auf den Angeklagten zubewegte, wobei er seine Hände nicht erhoben hatte. Dem Umstand, dass der Geschädigte sich „weiterhin in unmittelbarer Schlagdistanz zum Angeklagten“ befand, durfte das Landgericht rechtlich unbedenklich als ein auf die Absicht der Fortsetzung des Angriffs hindeutendes Indiz werten.

Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist weiterhin zu entnehmen, dass das Landgericht nicht zweifelsfrei zu belegen, aber auch nicht auszuschließen vermochte, dass der alkoholisierte und aggressive Geschädigte, der den Angeklagten am Tatabend aus dem Haus ausgeschlossen hatte, möglicherweise weitere Schläge gegen den ihm deutlich unter­legenen Angeklagten geführt hätte. Dabei hat das Landgericht – entgegen der Auffassung der Revision – in den Blick genommen, dass es in jüngerer Vergangenheit nicht mehr zu aggressiven Über­griffen des Geschädigten auf den Angeklagten gekommen ist. Entgegen der Auffassung der Revision sind die Beweiserwägungen zur Frage einer Notwehrlage nach dem ersten Stich auch nicht deshalb lückenhaft, weil das Landgericht nicht ausdrücklich erörtert hat, dass der sich dem Angeklagten erneut auf „Schlagdistanz“ annähernde Geschädigte dabei seine Hände nicht nur nicht erhoben, sondern diese auch nicht zur Faust geballt hatte. Denn es handelte sich insoweit nicht um ein gegen eine Angriffsabsicht des Geschädigten sprechendes, selbstständiges weiteres Indiz, welches ausdrücklicher Erörterung bedurfte.

Das Landgericht ist bei dieser Beweislage unter Anwendung des Zweifelssatzes hinsichtlich beider Messerstiche im Ergebnis zu Recht vom Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ausgegangen. Ein gegenwärtiger Angriff in diesem Sinne liegt nicht erst vor, wenn der Angreifer tatsächlich eine Verletzungs­handlung begangen hat. Ein Angriff ist vielmehr bereits dann gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechts­gutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Verteidigungs­handlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste. Maßgeblich ist insoweit bereits der Zeitpunkt der durch den bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage; als Angriff in diesem Sinne ist daher auch ein Verhalten zu werten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen nicht hinnehmbaren Risiken aussetzen würde. Hat der Angreifer bereits eine Verletzungs­handlung begangen, dauert der Angriff an, solange mit einer Wiederholung zu rechnen und ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist.

Für die Prüfung der Notwehrlage in diesem Sinne ist die objektive Sachlage maßgeblich. Es kommt auf die tatsächlichen Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechts­gutsverletzung an, die zugleich das Maß der erforderlichen und gebotenen Abwehrhandlung bestimmen. Allein die subjektive Befürchtung, ein Angriff stehe unmittelbar bevor, begründet noch keine Notwehrlage. Zwar läge allein in den durch den Geschädigten ausgesprochenen verbalen Beleidigungen („Pisser“, „Bengel“) noch kein gegenwärtiger Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten; ein lediglich verbaler Streit ist noch kein gegenwärtiger Angriff in diesem Sinne, so lange der Rahmen des Wortgefechts nicht überschritten wird. Das Landgericht hat aber die Ohrfeige des Geschädigten rechts­fehlerfrei als rechts­widrigen Angriff des Geschädigten auf die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten gewertet. Da es nicht zu klären vermochte, welche konkreten Absichten der Geschädigte nach dieser Ohrfeige hegte, und es an objektiven Anhaltspunkten für die Annahme fehlte, „der aggressive Geschädigte habe sich auf einen einzigen Schlag beschränken wollen“, ist es in Anwendung des Zweifelssatzes jeweils von der für den Angeklagten günstigsten Möglichkeit ausgegangen. Es hat daher vor dem ersten Stich des Angeklagten angenommen, dass ein weiterer Schlag des Geschädigten unmittelbar bevorstand. Gleiches gilt für den zweiten Stich; auch insoweit ist das Landgericht in Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo davon ausgegangen, dass ein weiterer Angriff des sich weiterhin „in Schlagdistanz“ befindlichen Geschädigten unmittelbar bevorstand. Das Landgericht ist daher im Rahmen der rechtlichen Würdigung trag­fähig davon ausgegangen, dass der Angeklagte sich jeweils nicht ausschließbar in einer objektiven Notwehrlage befand.

2. Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Über­zeugung begründet hat, dass die beiden Messerstiche vom Verteidigungs­willen des Angeklagten getragen und zur Verteidigung gegen den drohenden Angriff erforderlich und geboten waren, sind von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Die Ausführungen, mit denen das Landgericht seine Über­zeugung begründet hat, dass der Angeklagte jeweils handlungs­leitend mit Verteidigungs­willen gehandelt hat, sind rechts­fehlerfrei. Nach gefestigter Rechts­prechung ist ein Verteidigungs­wille auch dann noch als relevantes Handlungs­motiv anzuerkennen, wenn andere Beweggründe wie etwa Vergeltung, Verärgerung oder Wut hinzutreten; erst wenn diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass hinter ihnen der Wille, das Recht zu wahren, ganz in den Hintergrund tritt und deshalb von einem Abwehr­verhalten keine Rede mehr sein kann, scheidet die Annahme eines Verteidigungs­willens aus. Die Beweiserwägungen zum Verteidigungs­willen des Angeklagten sind trag­fähig. Revisionsrechtlich beachtliche Lücken weisen sie nicht auf. Das Landgericht hat seine Über­zeugung, dass der Angeklagte gehandelt hat, um den bevorstehenden Angriff auf sich abzuwehren, auf die glaubhafte Einlassung des Angeklagten und auf die Ausführungen des Sachverständigen gestützt. Dass ihm dabei die Persönlichkeit des Angeklagten aus dem Blick geraten sein könnte, schließt der Senat aus, zumal das Landgericht ausdrücklich berücksichtigt hat, dass – auch – aufgestaute Wut infolge vorangegangener Demütigungen unter­geordnet motivierend gewirkt haben könne. Als handlungs­leitend hat das Landgericht aber den Verteidigungs­willen angesehen und ausgeschlossen, dass ausschließlich Wut und Aggression handlungs­leitend gewesen sind.

Das Landgericht hat seiner Prüfung, ob die von Verteidigungs­willen getragenen Handlungen zur Abwehr des bevorstehenden Angriffs erforderlich und geboten waren, einen rechtlich zutreffenden Maßstab zugrunde gelegt. Es ist auf der Grundlage dieses zutreffenden rechtlichen Maßstabs nachvollziehbar zu der Auffassung gelangt, dass beide Messerstiche zur Verteidigung erforderlich waren. Hiergegen ist von Rechts wegen nichts zu erinnern. Gleiches gilt für die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Einschränkung des Notwehrrechts abgelehnt hat. Die gegen die Annahme der Erforderlichkeit und Gebotenheit der Verteidigung des Angeklagten gerichteten Angriffe der Revision greifen nicht durch. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:

Die tatgerichtliche Annahme, der Geschädigte habe den Angeklagten im Rahmen des unmittelbaren Tatvorgeschehens mit seiner Äußerung „Ich geb’ dir gleich halts Maul“ und der sich hieran anschließenden Verfolgung des Angeklagten nicht nur barsch verbal diszipliniert, sondern konkludent einen körperlichen Über­griff angedroht, ist trag­fähig begründet. Das Landgericht hat die verbale Äußerung des Geschädigten unter Berücksichtigung der Begleitumstände dahin ausgelegt, dass hierin bereits die Androhung eines körperlichen Über­griffs lag, wie er wenig später tatsächlich erfolgt ist. Dies ist ein möglicher Schluss, der von Rechts wegen nicht zu beanstanden ist, auch wenn eine abweichende Würdigung möglich gewesen wäre. Schließlich sind auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht angesichts des zerrütteten Verhältnisses zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts wegen eines familiären Nähe­verhältnisses abgelehnt hat, von Rechts wegen nicht zu beanstanden.

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