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BGH, Beschl. v. 01.02.2024 – 4 StR 287/23: Zur Heimtücke

Leitsätze 

  1. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungs­vorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt. (Rn. 12) 
  2. Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Opfer aber gleichwohl in der Tatsituation nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet. (Rn. 12) 
  3. Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen. (Rn. 12) 

Sachverhalt (Rn. 1–8) 

Am Nachmittag des Tattages fuhr der Angeklagte in dem Bewusstsein, nicht über die hierfür erforderliche Fahr­erlaubnis zu verfügen, mit einem Kraftfahrzeug auf den Parkplatz eines Einkaufs­markts. Dort stellte er sein Fahrzeug in einer Parkbucht ab und öffnete die Fahrertür. Noch bevor er aussteigen konnte, sprach ihn der ihm flüchtig bekannte spätere Geschädigte K. an und bat ihn, ihm ein Gramm Cannabis zu verkaufen. Der Angeklagte sagte die spätere Lieferung des Rauschgifts durch einen Dritten zu. Der Geschädigte, der das Cannabis sofort konsumieren wollte und die Reaktion des Angeklagten als überheblich empfand, geriet in Wut. Nach einer zunächst verbal geführten Auseinandersetzung schlug K. dem Angeklagten schließlich mit der flachen Hand ins Gesicht und forderte ihn laut auf, aus seinem Fahrzeug auszusteigen. Der dem Geschädigten körperlich deutlich unter­legene Angeklagte geriet sichtlich in Angst, begann zu zittern und bat K. , ihn in Ruhe zu lassen. In dem Bewusstsein, aus dem inzwischen von Passanten beobachteten „Kräftemessen“ mit dem Angeklagten als Sieger hervorgegangen zu sein, erklärte K, der Angeklagte sei schon immer ein räudiger Hund gewesen und werde dies auch bleiben; dabei trat er abschließend demonstrativ die geöffnete Fahrertür mit dem Fuß zu, wandte sich um und entfernte sich.  

Der Angeklagte wollte diese Demütigung nicht auf sich beruhen lassen und beschloss, sich unter Einsatz des von ihm geführten Kraftfahrzeugs „Genugtuung“ zu verschaffen und den Geschädigten anzufahren. Er fuhr rückwärts aus der Parkbucht aus, verließ den Parkplatz und bog nach links ab, um dem Geschädigten zu folgen. Dabei missachtete er die Vorfahrt eines anderen Verkehrs­teilnehmers, der sein Fahrzeug scharf abbremsen musste, um eine Kollision zu vermeiden. Auch der Angeklagte bremste sein Fahrzeug nahezu bis zum Stillstand ab. Der Geschädigte nahm die Bremsgeräusche wahr, drehte sich um und sah, dass der Angeklagte nach links in seine Richtung abgebogen war. Er hielt für möglich, dass der Angeklagte ihm mit dem Fahrzeug folgen könnte, um ihn zur Rede zu stellen oder ihm Angst einzujagen. Da er sich nicht einschüchtern lassen und keine Blöße zeigen wollte, drehte er sich um und setzte seinen Weg fort; mit einer körperlichen Auseinandersetzung oder gar dem Einsatz des Kraftfahrzeugs als Waffe rechnete er nicht. 

Der Angeklagte gab nunmehr Vollgas und beschleunigte sein Fahrzeug massiv mit dem Ziel, den Geschädigten auf dem Gehweg mit einer möglichst hohen Geschwindigkeit zu erfassen. Dabei rechnete er damit, den Geschädigten durch die Wucht des Aufpralls tödlich zu verletzen; er fand sich jedoch angesichts der vorangegangenen Kränkung mit einem tödlichen Ausgang ab. In diesem Zusammenhang nahm er auch wahr, dass der Geschädigte den Gehweg in seiner 

Fahrtrichtung beschritt, ihm den Rücken zuwandte und keine Anstalten machte, die Flucht zu ergreifen. Diese Situation nutzte der Angeklagte bewusst aus, um den Geschädigten von hinten zu überfahren. Er lenkte sein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h gezielt nach rechts auf den Gehweg. Der Geschädigte wandte sich kurz vor der Kollision noch einmal um. Dabei sah er, dass der Angeklagte gezielt auf ihn zusteuerte; ihm verblieb aber keine Zeit, um der nun unmittelbar bevorstehenden Kollision auszuweichen. Tatplangemäß erfasste der Angeklagte den Geschädigten mit der vorderen rechten Motorhaube im Bereich der rechten Körperpartie rückseitig. Dieser wurde durch die Wucht des Aufpralls auf die Motorhaube aufgeladen und prallte mit dem Rücken gegen die Windschutz­scheibe, die großflächig splitterte und einriss. Anschließend wurde er auf den Bürgersteig geschleudert und blieb dort reglos liegen. Der Angeklagte nahm an, ihn getötet zu haben, lenkte sein Fahrzeug auf die Straße zurück und floh. 

Der Geschädigte erlitt durch den Anprall an das Fahrzeug unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades sowie eine Rippenknorpelfraktur, welche operativ versorgt wurde. Erheblichere Verletzungen sind infolge der stabilen und muskulösen Statur des Geschädigten ausgeblieben. Sämtliche Verletzungen sind folgenlos ausgeheilt; Spätschäden sind nicht zu erwarten. 

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem Fahren ohne Fahr­erlaubnis verurteilt. 

Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf sachlich-rechtliche Einwendungen gestützten Revision unter anderem gegen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke und gegen die Strafzumessung. Das Rechts­mittel ist unbegründet. 

Aus den Gründen (Rn. 9–16) 

Das Schwurgericht hat die Tat als versuchten Mord im Sinne der § 211 Abs. 2, §§ 22, 23 StGB gewertet. Es ist zu der Über­zeugung gelangt, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungs­vorsatz und unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten handelte.  

Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Das Urteil weist keinen den Angeklagten beschwerenden Rechts­fehler auf. Der Erörterung bedarf nur das Folgende: 

Die auf einer rechts­fehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen tragen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB. 

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungs­vorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt. Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Opfer aber gleichwohl in der Tatsituation nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet. Entscheidend ist auch hier, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn zumindest zu erschweren. Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen. Voraussetzung heimtückischer Begehungs­weise ist schließlich, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt. 

Gemessen hieran ist heimtückisches Handeln des Angeklagten festgestellt und trag­fähig belegt. 

Zwar ging dem Tatgeschehen eine verbal und körperlich geführte Auseinandersetzung voraus; im Rahmen dieser Auseinandersetzung verhielt sich der Angeklagte aber zurückhaltend, passiv und ängstlich. Der Geschädigte erwartete nach der aus seiner Sicht beendeten Auseinandersetzung keinen erheblichen Angriff gegen seine körperliche Integrität, sondern rechnete allenfalls damit, dass der ihm körperlich unter­legene Angeklagte ihn angesichts seines 

vorangegangenen Verhaltens zur Rede stellen oder ihm „Angst einjagen“ könne. Den Urteilsfeststellungen ist daher mit der erforderlichen Klarheit zu entnehmen, dass das Tatopfer nicht mit einem Angriff auf sein Leben oder mit einem erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnete. Dass es sich unmittelbar vor der Kollision umwandte und den Angriff daher in letzter Minute wahrnahm, stellt seine Arglosigkeit nicht in Frage, weil die verbleibende Zeitspanne zu kurz war, um der nunmehr erkannten Gefahr zu begegnen. 

Die Feststellungen sind auch trag­fähig belegt. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang rechts­fehlerfrei darauf abgestellt, dass der Geschädigte dem Angeklagten den Rücken zuwandte und seinen Weg unbeirrt fortsetzte, ohne die Möglichkeit zur Flucht zu ergreifen. Einen rechtlich erheblichen Erörterungs­mangel zeigt die Revision nicht auf. Die tatgerichtlichen Schlussfolgerungen sind möglich; zwingend müssen sie nicht sein. 

Auch die Annahme eines Ausnutzungs­bewusstseins beruht auf einer trag­fähigen Beweisgrundlage. Dabei hat das Landgericht neben der anschaulichen Höchstgefährlichkeit der Angriffsweise auch die Umstände, die indiziell gegen ein Ausnutzungs­bewusstsein sprechen können (vorangegangene Auseinandersetzung, spontaner Tatentschluss, Erregung und Wut des Angeklagten), ausdrücklich in den Blick genommen. Seine Über­zeugung beruht auf einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen und ist daher rechts­fehlerfrei. 

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