DE / EN

BGH, Beschl. v. 18.01.2024 – 4 StR 253/23: Zur Heimtücke

Leitsätze 

  1. Arglos ist ein Tatopfer, das bei Beginn des ersten mit Tötungs­vorsatz geführten Angriffs weder mit einem lebens­bedrohlichen noch mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. 
  2. Handelt es sich um ein mehraktiges Tatgeschehen, bei welchem dem Tatopfer die todesursächliche Verletzungs­folge nicht mit dem ersten Angriff, sondern durch einen späteren Teilakt beigebracht wird, kommt es grundsätzlich darauf an, ob das Gesamtgeschehen als eine natürliche Handlungs­einheit zu bewerten ist und deshalb eine Tat im Rechts­sinne vorliegt. Dies ist der Fall, wenn zwischen einer Mehrheit gleichgearteter, strafrechtlich erheblicher Betätigungen ein derart unmittelbarer Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln des Täters objektiv auch für einen Dritten als ein einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint und die einzelnen Betätigungs­akte durch ein gemeinsames subjektives Element miteinander verbunden sind. Unabhängig hiervon kann ein Heimtückemord gleichwohl ausscheiden, wenn der Täter im ersten Handlungs­komplex bereits zurückgetreten war.  
  3. In subjektiver Hinsicht setzt das Mordmerkmal der Heimtücke gem. § 211 II StGB voraus, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungs­losigkeit gegenüber dem Angriff schutz­losen Menschen zu überraschen. An einem Ausnutzungs­bewusstsein kann es bei affektiven Durchbrüchen oder heftigen Gemütsbewegungen ebenso fehlen wie bei einem zur Tatzeit erheblich alkoholisierten Täter.  

Sachverhalt (Rn. 1–7)

Die seit 1992 bestehende Ehe zwischen dem Angeklagten und seiner Ehefrau H. , dem späteren Tatopfer, geriet mit Beginn der Corona-Pandemie in eine (erneute) Krise. Im Jahr 2022 kam es zwischen den Eheleuten zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Polizeieinsätze nach sich zogen. H. fühlte sich nach dem Auszug der gemeinsamen Kinder einsam, begann mit dem Konsum erheblicher Mengen Alkohol und nahm schließlich eine intime Beziehung zu einem Nachbarn auf. Wenige Tage vor der Tat erlangte der Angeklagte Kenntnis von dieser Beziehung und reagierte eifersüchtig und gekränkt; woraufhin er sie „schubste“ und drohte, sie zu töten. Diese Drohung nahm seine Ehefrau nicht ernst; nach einer erneuten Auseinandersetzung flüchtete sie jedoch zu ihrem Freund und hielt sich in den Folgetagen dort auf. 

Am Tattag, rief der bereits erheblich alkoholisierte Angeklagte um kurz vor neun Uhr den Nachbarn an und wollte seine Ehefrau sprechen. Der Inhalt des kurzen fernmündlichen Gesprächs zwischen dem Angeklagten und H. konnte nicht geklärt werden. Jedenfalls kündigte H. dem Angeklagten ihr Kommen an. „Spätestens nach dem Telefonat“ entschloss sich der über die außereheliche Beziehung verärgerte und „stark gekränkte“ Angeklagte, seine Ehefrau zu töten. In Umsetzung dieses Tatentschlusses lauerte er ihr mit einem Küchenmesser in der Hand im Eingangs­bereich des Wohnhauses hinter der Haustür auf. H. , die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls erheblich alkoholisiert war, betrat etwa zehn Minuten nach dem Telefonat das Haus. Trotz vorangegangener körperlicher Auseinandersetzungen rechnete sie dabei nicht mit einem erheblichen Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit oder ihr Leben. Dies nutzte der Angeklagte bewusst zur Tatbegehung aus und stach unvermittelt mit einem Küchenmesser mit längerer Klinge auf sie ein. Dabei fügte er ihr „schon zu diesem Zeitpunkt […] mit dem Leben unvereinbare Verletzungen zumindest an der Hals- und Rumpfrückseite zu“. H. wehrte sich vergeblich und fiel zu Boden. „Nach etwa zwei Minuten“ unter­brach der Angeklagte seinen Angriff, verließ das Wohnhaus über den Hintereingang mit dem Tatmesser und versteckte es. Kurze Zeit später kehrte er zurück, begab sich in die Küche, ergriff dort ein Fleischermesser mit einer rund 18 Zentimeter langen Klinge und stach weiter auf das am Boden liegende Tatopfer ein. Abschließend stieß er H. das Messer in die Brust und ließ es dort stecken. Insgesamt fügte er ihr 36 Schnitt- und Stichverletzungen zu, an denen sie „binnen kürzester Zeit am Tatort durch Verbluten und Bluteinatmung“ verstarb. Anschließend verständigte er die Polizei.

Das LG hat den Angeklagten wegen Mordes verurteilt. Das Landgericht hat angenommen, dass der Angeklagte „aus einem Hinterhalt“ auf sein Tatopfer einstach und es daher heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB tötete. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts.

Aus den Gründen (Rn. 8–18)

Der Schuldspruch wegen Heimtückemordes hält revisionsrechtlicher Über­prüfung nicht stand.

Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Arglos ist ein Tatopfer, das bei Beginn des ersten mit Tötungs­vorsatz geführten Angriffs weder mit einem lebens­bedrohlichen noch mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Handelt es sich um ein mehraktiges Tatgeschehen, bei welchem dem Tatopfer die todesursächliche Verletzungs­folge nicht mit dem ersten Angriff, sondern durch einen späteren Teilakt beigebracht wird, kommt es grundsätzlich darauf an, ob das Gesamtgeschehen als eine natürliche Handlungs­einheit zu bewerten ist und deshalb eine Tat im Rechts­sinne vorliegt. Dies 

ist der Fall, wenn zwischen einer Mehrheit gleichgearteter, strafrechtlich erheblicher Betätigungen ein derart unmittelbarer Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln des Täters objektiv auch für einen Dritten als ein einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint und die einzelnen Betätigungs­akte durch ein gemeinsames subjektives Element miteinander verbunden sind. Unabhängig hiervon kann ein Heimtückemord gleichwohl ausscheiden, wenn der Täter im ersten Handlungs­komplex bereits zurückgetreten war.

Gemessen hieran tragen die tatgerichtlichen Feststellungen die Annahme eines Heimtückemordes weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht. 

Die Feststellungen sind auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, der Angeklagte habe seiner Ehefrau bereits zu diesem Zeitpunkt „mit dem Leben unvereinbare Verletzungen“ im Hals- und Rumpf­bereich zugefügt. Auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden, welche konkreten Verletzungen der Angeklagte seiner Ehefrau in diesem ersten Handlungs­abschnitt mit dem Tatwerkzeug – einem Küchenmesser unbekannter Klingenlänge – zugefügt hat. Sie sind vielmehr auf den zusammenfassenden Hinweis beschränkt, dass der Angeklagte seiner Ehefrau im Rahmen des festgestellten zweiaktigen Tatgeschehens insgesamt „36 Schnitt-/Stichverletzungen“ zugefügt hat. Trag­fähige Hinweise auf das konkrete Verletzungs­bild der dem Tatopfer im ersten Handlungs­abschnitt zugefügten Verletzungen sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.

Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass das Urteil auf den Feststellungs- und Darlegungs­mängeln beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Hätte der Angeklagte seinem Opfer erst im zweiten Handlungs­abschnitt – nach Verlassen des Hauses und Verstecken des zuerst verwendeten Tatmessers, seiner Rückkehr und nach dem Ergreifen des zweiten Messers – die zum Tod führenden Verletzungen beigebracht, wäre die Annahme einer Tat des vollendeten Heimtückemordes wie ausgeführt nur gerechtfertigt, wenn die beiden strafrechtlich relevanten Einzelakte bei wertender Betrachtung als natürliche Handlungs­einheit anzusehen wären. Letzteres ist nach den lückenhaften Feststellungen auch zur subjektiven Tatseite und zum Vorstellungs­bild des Angeklagten insbesondere im Zeitpunkt der Beendigung des ersten Angriffs auf seine Ehefrau ungeachtet des engen zeitlichen Zusammenhangs beider Angriffe nicht ausgeschlossen. Die Urteilsgründe verhalten sich nicht dazu, aus welchen Gründen der Angeklagte seinen Angriff unter­brochen, das Haus verlassen und das verwendete Tatmesser in der Umgebung des Hauses versteckt hat. Nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe bleibt offen, ob der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt die Vorstellung hegte, seine Ehefrau bereits tödlich verletzt zu haben; denn das Tatgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass der Angeklagte mit dem zweiten Angriff sichergehen wollte, den Todeserfolg herbeizuführen. Bei dieser Sachlage erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der Angeklagte seinen ursprünglichen Tatentschluss – zunächst – aufgegeben und von seinem noch unbeendeten Tötungs­versuch Abstand genommen haben könnte. In einem solchen Fall könnte die Annahme eines vollendeten Heimtückemordes rücktrittsbedingt durchgreifend in Frage stehen; vielmehr kämen auch eine – ggf. in Tateinheit stehende – gefährliche Körperverletzung und ein Totschlag zum Nachteil des nicht mehr arg- und wehrlosen Opfers in Betracht.

Ferner ist das für das Mordmerkmal der Heimtücke erforderliche Ausnutzungs­bewusstsein beweiswürdigend nicht trag­fähig belegt. 

In subjektiver Hinsicht setzt das Mordmerkmal der Heimtücke gemäß § 211 Abs. 2 StGB voraus, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungs­losigkeit gegenüber dem Angriff schutz­losen Menschen zu überraschen. Das Ausnutzungs­bewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Tatgeschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt. Das gilt in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter selbst dann, wenn er die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat. An einem Ausnutzungs­bewusstsein kann es aber bei affektiven Durchbrüchen oder heftigen Gemütsbewegungen ebenso fehlen wie bei einem zur Tatzeit erheblich alkoholisierten Täter. 

Gemessen hieran ist das heimtücke­spezifische Ausnutzungs­bewusstsein nicht trag­fähig belegt. Es fehlt an der erforderlichen Erörterung der für und gegen das Ausnutzungs­bewusstsein sprechenden Beweisanzeichen. Es lag unter den gegebenen Umständen auch nicht ohne Weiteres auf der Hand. Denn der Angeklagte war zum Tatzeitpunkt mit einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 2,7 Promille erheblich alkoholisiert. Trotz festgestellter Trinkgewöhnung und des Umstands, dass er von einer leicht verwaschenen Sprache und einem 

unsicheren Gangbild abgesehen keine Ausfallerscheinungen zeigte, hätte dies angesichts des nach den Feststellungen womöglich spontan gefassten Tatentschlusses näherer Erörterung bedurft. Weiterhin hätte die psychische Verfassung des Angeklagten zur Tatzeit in den Blick genommen werden müssen. Die im Rahmen der Schuld­fähigkeits­prüfung niedergelegte tatgerichtliche Wertung, es fehle gänzlich an affektiven Auffälligkeiten, ist beweiswürdigend nicht belegt und versteht sich unter Berücksichtigung der Feststellungen zur Tatvorgeschichte nicht von selbst. Danach war das Verhältnis des Angeklagten zu seiner Ehefrau seit geraumer Zeit ambivalent, von Affektanspannungen begleitet und hatte sich durch die tatzeitnah bekannt gewordene außereheliche Beziehung weiter verschlechtert. Auch die Art der Tatausführung („Über­tötung“), die im Rahmen der Schuldschwere­prüfung schulderhöhend berücksichtigt worden ist, hätte zu einer näheren Erörterung der Frage des Ausnutzungs­bewusstseins drängen müssen. Hieran fehlt es.

Zum Volltext