DE / EN

BGH, Urt. v. 11.01.2024 – 3 StR 280/23: Zur Blutalkoholkonzentration und zum Vollrausch

Leitsätze

  1. Bezüglich der Über­prüfung von der auf Tatsachen gestützten Über­zeugung des Tatgericht kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn die Über­zeugung auf fehlerhaften Vorstellungen und Erwägungen beruht, etwas das Tatgericht einen unzutreffenden rechtlichen Ausgangspunkt zu Grunde gelegt, die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt, ohne ausreichende Tatsachengrundlage Schlüsse gezogen – etwa anerkanntermaßen nicht aussagekräftige Indizien herangezogen – oder gegen gesicherte natur­wissenschaft­liche Erfahrungs­sätze verstoßen hat.
  2. Für die Beurteilung der Schuld­fähigkeit maßgeblich ist eine Gesamtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungs­bild des Täters vor, während und nach der Tat beziehen. In die Gesamtwürdigung sind sowohl die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen.
  3. Bei erheblicher Alkoholgewöhnung ist das indizielle Gewicht der Blutalkoholkonzentration geringer einzustufen ist als bei Gelegenheitskonsumenten. Bei erheblich alkoholgewöhnten Menschen können allerdings äußeres Leistungs­verhalten und innere Steuerungs­fähigkeit weit auseinanderfallen. In einem solchen Fall schließt daher ein motorisch kontrolliertes, äußerlich geordnetes und zielstrebiges Tathandeln einen intoxikations­bedingten Wegfall des Hemmungs­vermögens nicht aus.

Sachverhalt (Rn. 3 ff.)

Der langjährig alkoholabhängige Angeklagte konsumierte täglich erhebliche Mengen Alkohol – sechs bis sieben Flaschen Bier sowie Wein und Wodka. Der Mitangeklagte und das Tatopfer waren auch dem Alkohol verfallen. Der Angeklagte, der Mitangeklagte und weitere Personen aus ihrem Umfeld trafen sich wiederholt zum gemeinsamen Alkoholkonsum in der Wohnung des Opfers, das über hinreichende finanz­ielle Mittel verfügte und die Alkoholika bezahlte. Der Geschädigte war aufgrund eines Schlaganfalls erheblich mobilitätseingeschränkt und auf fremde Hilfe angewiesen. Der Angeklagte, der unter Alkoholeinfluss regelmäßig verbal aggressiv war sowie gegenüber Dritten Beleidigungen und Bedrohungen aussprach, hatte ein angespanntes Verhältnis zum Tatopfer, weil dieses ihm wiederholt vorwarf, anlässlich einer gemeinsamen Zusammenkunft ein Mobiltelefon entwendet zu haben, was der Angeklagte abstritt.

Im Laufe des Tattages nahm der Angeklagte erhebliche Mengen an Alkohol zu sich, wobei er es für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, dass er auch in einen Rausch geriet. Auch war ihm seine verbale aggressive Neigung unter Alkoholeinfluss bekannt. Zu körperlicher Gewalt Dritten gegenüber neigte der Angeklagte indes nicht; daher rechnete er auch nicht damit, im Alkoholrausch gewalttätig zu werden.

Der Angeklagte und das Tatopfer gerieten in der Wohnung des Tatopfers in Streit, woraufhin der Angeklagte ein Messer nahm und zwei Mal auf den auf der Couch liegenden Geschädigten einstach. Dieser verstarb nach wenigen Minuten. Der Tatzeitpunkt war zwischen 16:47 und 18:43.

Um 16:47 hatte der Angeklagte nach den Feststellungen der Strafkammer eine maximale Blutalkoholkonzentration von 3,64 Promille, um 18:43 3,45 Promille. Aufgrund dieser Alkoholintoxikation war er in seiner Steuerungs­fähigkeit sicher erheblich eingeschränkt; nicht auszuschließen vermocht hat die Strafkammer, dass seine Steuerungs­fähigkeit zum Tatzeitpunkt deshalb gänzlich aufgehoben war. Um 20 Uhr wurde ein Wert von 3,32 Promille festgestellt.

Der Angeklagte wurde wegen der nicht ausschließbaren Schuldun­fähigkeit nicht wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB verurteilt, sondern wegen vorsätzlichen Vollrausches gemäß § 323a Abs. 1 StGB.

Aus den Gründen

Die Revision der Staats­anwaltschaft bleibt in der Sache ohne Erfolg.

1. Für die revisionsrechtliche Nach­prüfung der Feststellungen der Strafkammer bezüglich der Schuld­fähigkeit gilt , dass die auf Tatsachen gestützte Über­zeugung des Tatgerichts zur Schuld­fähigkeit des Angeklagten vom Revisionsgericht hinzunehmen ist. „Es kann nur eingreifen, wenn die Über­zeugung auf fehlerhaften Vorstellungen und Erwägungen beruht, etwas das Tatgericht einen unzutreffenden rechtlichen Ausgangspunkt zu Grunde gelegt, die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt, ohne ausreichende Tatsachengrundlage Schlüsse gezogen – etwa anerkanntermaßen nicht aussagekräftige Indizien herangezogen – oder gegen gesicherte natur­wissenschaft­liche Erfahrungs­sätze verstoßen hat. Dies ist hier nicht ersichtlich.“ (Rn.  13)

Die Strafkammer hat mit dem psychiatrischen Sachverständigen eine vorübergehende krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB aufgrund akuter Alkoholintoxikation angenommen. Allerdings ist vorliegend die Rückrechnung des Blutalkoholwerts fehlerhaft: Es wurde eine individuelle stündliche Abbaurate von 0,1 Promille zugrunde gelegt, da dem Angeklagten nach einer früheren Festnahme in einem zeitlichen Abstand von 30 Minuten zwei Blutproben entnommen worden seien. Die Differenz zwischen den jeweiligen Blutalkoholwerten zeige, dass der Angeklagte Blutalkohol in einem Umfang von 0,1 Promille pro Stunde abbaue; die Lebens­umstände am Tag dieser Festnahme seien mit denen des Tattages vergleichbar. (Rn. 14 f.)

Dies ist zum Nachteil des Angeklagten rechtlich verfehlt. „Denn wenn zwischen Tat und Blutentnahme – wie hier – kein Nachtrunk stattfand oder festgestellt werden kann, ist für die Frage der Schuld­fähigkeit zu Gunsten des Angeklagten ein stündlicher Alkoholabbau von 0,2 Promille und zusätzlich ein einmaliger Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille anzusetzen.“ Ein individueller Abbauwert aufgrund der Ermittlung der Differenz von zwei in einem bestimmten Abstand zueinander entnommenen Blutproben ist nach medizinischer Er­kenntnis nicht feststellbar und darf daher nicht für die Rückrechnung zur Bestimmung der Schuld­fähigkeit herangezogen werden.“ Korrekt wäre es gewesen, 14,16 Promille zugrunde zu legen. (Rn. 16 f.)

Der Rechenfehler berührt die Feststellungen zur Schuldun­fähigkeit jedoch nicht. (Rn. 18)

Die Strafkammer hat insbesondere bedacht, dass dieser hohen Blutalkoholkonzentration zwar ein Indizwert für eine aufgehobene Steuerungs­fähigkeit zukommt, es jedoch keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungs­satz dahin gibt, „dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungs­kriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit (in aller Regel) eine alkoholbedingt erheblich verminderte oder sogar aufgehobene Steuerungs­fähigkeit angenommen werden muss.“ Dies gilt insbesondere bei Rückrechnung. (Rn. 19 f.)

„Für die Beurteilung der Schuld­fähigkeit maßgeblich ist vielmehr eine Gesamtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungs­bild des Täters vor, während und nach der Tat beziehen. In die Gesamtwürdigung sind sowohl die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen.“ (Rn. 21)

Dies hat das Landgericht vorgenommen. Die Strafkammer hat zu Recht berücksichtigt, dass das – hohe – indizielle Gewicht der Blutalkoholkonzentration aufgrund der erheblichen Alkoholgewöhnung beim Angeklagten geringer einzustufen ist als bei Gelegenheitskonsumenten. (Rn. 22 f.)

Auch die psycho-psychische Leistungs­fähigkeit wie Fähigkeit zur Artikulation, Selbsteinschätzung oder Motorik hat das Landgericht umfassend gewürdigt (Rn. 24). Es hat zu Recht geäußert, „dass bei erheblich alkoholgewöhnten Menschen wie dem Angeklagten äußeres Leistungs­verhalten und innere Steuerungs­fähigkeit weit auseinanderfallen können. In einem solchen Fall schließt daher ein motorisch kontrolliertes, äußerlich geordnetes und zielstrebiges Tathandeln einen intoxikations­bedingten Wegfall des Hemmungs­vermögens nicht aus.“ (Rn. 25) „Die basale kognitive Leistungs­fähigkeit hat für die Beurteilung der Steuerungs­fähigkeit und damit des Hemmungs­vermögens eine allenfalls geringe Aussagekraft.“ (Rn. 28)

Es stellt vorliegend keinen Rechts­fehler dar, dass die Strafkammer im Ergebnis von der Beurteilung des psychiatrischen Sachverständigen abgewichen ist, der zu der Einschätzung gelangt ist, dass die Steuerungs­fähigkeit zwar erheblich eingeschränkt war, jedoch nicht aufgehoben gewesen sei. „Denn die Beurteilung der Schuld­fähigkeit eines Angeklagten ist Aufgabe des Tatgerichts, das sich erforderlichenfalls der Hilfe eines Sachverständigen zu bedienen hat, ohne aber an dessen Auffassung gebunden zu sein. Vielmehr hat das Tatgericht eine eigene Gesamtwürdigung aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände vorzunehmen.“ (Rn. 29 f.)

Im Ergebnis ist die Über­zeugungs­bildung der Strafkammer gestützt auf die umfassende Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände, dass  eine Aufhebung der Steuerungs­fähigkeit bei der Tötungs­handlung nicht ausgeschlossen werden kann, nicht zu beanstanden. (Rn. 31)

2. Auch die Verurteilung wegen vorsätzlichen Vollrausches gem. § 323a Abs. 1 StGB hält der revisionsrechtlichen Kontrolle stand.

a) Unter „Rausch“ im Sinne von § 323a Abs. 1 StGB „ist ein Zustand zu verstehen, in dem sich die Wirkungen des konsumierten Rauschmittels derart entfalten, dass die Fähigkeit beeinträchtigt ist, das eigene Verhalten an rechtlichen Verhaltensnormen zu orientieren. Ein tatbestandsrelevanter Rausch ist zu bejahen, wenn der Täter durch den Konsum berauschender Mittel in eine Verfassung gerät, aufgrund derer er in Bezug auf die Rauschtat schuldun­fähig ist oder insofern zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuld­fähigkeit vorliegt und Schuldun­fähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann.“ (Rn. 33)

b) Eine vorsätzliche Selbstberauschung ist gegeben, „wenn der Täter beim Rauschmittelkonsum für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass er sich dadurch in einen Rauschzustand versetzt, der seine Einsichts­fähigkeit oder sein Hemmungs­vermögen jedenfalls erheblich vermindert, wenn nicht ganz ausschließt. Einer konkreten Vorhersehbarkeit der Rauschtat bedarf es nicht.“ Der Angeklagte wusste von seiner aggressiven Neigung im Rauschzustand. (Rn. 34)

c) Die Schuld­fähigkeit hinsichtlich des § 323a Abs. 1 StGB ist nicht aufgehoben. Das Tatgericht hat trag­fähig begründet, dass die Steuerungs­fähigkeit des Angeklagten in Bezug auf das Sich-Berauschen zwar angesichts des von der Alkoholabhängigkeit ausgehenden Suchtdrucks und der vom Angeklagten geschilderten Entzugserscheinungen bei unter­bleibender Alkoholzufuhr nicht ausschließbar erheblich eingeschränkt, indes nicht aufgehoben gewesen sei. (Rn. 35)

d) Die objektive Bedingung der Strafbarkeit ist gegeben und eine strafschärfende Wertung der Tat ist nicht zu beanstanden (Rn. 36 f.)

Zum Volltext