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BGH, Beschluss. v. 19.11.2020 – 4 StR 240/20 (Teil 2: Zur vorsätzlichen Gefährdung des Straßenverkehrs gem. § 315c Abs. 1 StGB)

Sachverhalt [Rn. 3–5, 13–17]:

(...)Am Folgetag fiel einer Polizeistreife eines der erbeuteten Kraftfahrzeuge auf, an dessen Steuer der A saß. Der A entschloss sich zur Flucht, um einer Festnahme zu entgehen. Bei einer Geschwindigkeit von rund 100 km/h überholte der A mehrere vor ihm die rechte Fahrspur befahrende Kraftfahrzeuge und nahm dabei die Gefährdung anderer Verkehrs­teilnehmer zumindest billigend in Kauf. Er geriet zudem durch Überholmanöver mehrfach in den Gegenverkehr. Der A kam u.a. einem Streifenwagen so entgegen, dass dieser auf die Fahrspur des Gegenverkehrs ausweichen musste, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der Angeklagte nahm zumindest billigend in Kauf, den Streifenwagen durch einen Zusammenstoß zu beschädigen und dessen Insassen zu verletzen. Letztlich gelang es den Polizeibeamten dem A den Fluchtweg abzuschneiden. Obwohl der Angeklagte die Aussichtslosigkeit einer weiteren Flucht erkannte, fuhr er zunächst mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf den Streifenwagen zu. Erst wenige Meter vor dem schon stehenden Streifenwagen bremste er aus Selbstschutz noch auf etwa Schrittgeschwindigkeit ab und kollidierte mit der Front des Streifenwagens, der dadurch beschädigt wurde. Dies hatte der Angeklagte ebenso wie eine Verletzung der Insassen in Kauf genommen.

Teil 2: Zu den Verkehrs­delikten [Rn. 18–31]:

Das Landgericht hat die Tat des A als Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1b StGB, Widerstand gegen Vollstreckungs­beamte und tätlichen Angriff auf Vollstreckungs­beamte gewertet. Tateinheitlich trete die wiederholte Verwirklichung des Tatbestands der vorsätzlichen Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB sowie die vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) und f) StGB und die Zerstörung eines wichtigen technischen Arbeits­mittels gemäß § 305a Abs. 1 Nr. 2 StGB hinzu.

Der Schuldspruch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB (falsches Fahren beim Überholen) hält einer rechtlichen Über­prüfung jedoch nicht stand. Es fehlt an den erforderlichen Feststellungen, dass A durch sein Fahr­verhalten Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert konkret gefährdet hat.

Eine vollendete Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 StGB erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechts­gut verletzt wurde oder nicht. Nach diesen Maßstäben ist eine konkrete Gefahr für Leib und Leben anderer oder für Sachen von bedeutendem Wert weder festgestellt noch belegt. Es ergibt sich nicht, dass die Handlung des Angeklagten über die ihr innewohnende hohe abstrakte Gefährlichkeit hinaus zu einer kritischen Situation im Sinne eines „Bei-nahe-Unfalls“ geführt hat.

Auch der Schuldspruch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) und f) StGB (Missachtung der Vorfahrt und Wenden auf einer Kraftfahrstraße) hält einer rechtlichen Über­prüfung nicht stand. Hinsichtlich des angenommenen Verstoßes gegen § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) StGB fehlt es ebenfalls an den die Annahme eines „Beinahe-Unfalls“ tragenden Feststellungen zur konkreten kritischen Verkehrs­situation.

Auch der Schuldspruch wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr im Sinne von § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB hält einer rechtlichen Über­prüfung nicht stand.

Ein vorschriftswidriges Verhalten im fließenden Verkehr wird von § 315b StGB nur erfasst, wenn ein Fahrzeugführer das von ihm gesteuerte Kraftfahrzeug in verkehrs­feindlicher Einstellung bewusst zweckwidrig einsetzt, er mithin in der Absicht handelt, den Verkehrs­vorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr zu „pervertieren“, und es ihm darauf ankommt, hierdurch in die Sicherheit des Straßenverkehrs einzugreifen. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert zudem, dass durch den tatbestandsmäßigen Eingriff Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert konkret gefährdet werden. Bei Vorgängen im fließenden Verkehr muss zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrs­feindlicher Absicht ferner hinzukommen, dass das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungs­vorsatz missbraucht wurde.

Gemessen hieran ist ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr im Sinne des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB weder objektiv noch subjektiv trag­fähig belegt. Dass der A sein Fahrzeug gezielt zur Erzwingung seiner Durchfahrt missbrauchte, ist weder festgestellt noch trag­fähig belegt. Der A nutzte sein Fahrzeug weiterhin in erster Linie als Fluchtmittel. Darüber hinaus fehlt es auch insoweit an Feststellungen und trag­fähigen Beweiserwägungen, dass das Fahrmanöver des A zu einer konkreten Gefahr im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ geführt hat.

Schließlich ist auch der Tatbestand des § 305a StGB bereits objektiv nicht belegt. Insoweit fehlt es an Feststellungen zu den an dem Dienstkraftfahrzeug entstandenen Schäden; eine teilweise Zerstörung des Fahrzeugs im Sinne des § 305a StGB ist daher weder festgestellt noch belegt.

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